Ornament und Kultur
Zur Malerei von Konstantin Totibadze
Konstantin Totibadzes Künstlerbiografie scheint, auf den ersten Blick, in einer merkwürdigen Spannung zu seinem Werk zu stehen. Totibadze wurde Ende der 1960er Jahre in Georgien geboren, erhielt in der Hauptstadt der ehemaligen Sowjetunion seine künstlerische Ausbildung und lebte, nachdem sich der eiserne Vorhang zwischen Ost und West gehoben hatte, in Paris und San Francisco. Derzeit pendelt er zwischen Moskau und Frankfurt am Main. Eigentlich ein typischer Anywhere der global vernetzten Kunstwelt, der an keinen bestimmten Ort mehr gebunden scheint und überall in der Welt eine Ausstellung bespielen kann. Die formale Voraussetzung für einen derart kosmopolitischen Lebensstil ist normalerweise ein Kunststil, der keine Sprachbarrieren kennt und Kulturbarrieren leicht überwindet, wie die abstrakte Malerei in der Nachkriegsmoderne des 20. Jahrhunderts oder der Konzeptualismus, der sich im 21. Jahrhundert als das neue Esperanto der Kunstwelt etabliert hat und zum International Style von documenta und Kunstbiennalen avanciert ist.
Totibadze hingegen malt Stillleben, die aufgrund ihres typisch russischen Sujets – Wodka, Brot, Fisch, Kaviar und gezuckerte Milch – stark in einer nationalen Kultur verankert sind. Ein Bild wie Weißkohl, Kaviar, auf dem neben zwei Kohlköpfen, einem Schneidebrett und einem Messer eine Schüssel voller Münzen und eine Dose Kaviar zu sehen sind, versteht man nicht, wenn man nicht mit der russischen Umgangssprache vertraut ist. „Weißkohl kleinschneiden" heißt im Slang auch „Geld machen", und erst hierüber stellt sich die Assoziation zwischen dem Kohl, dem Armeleutegemüse, und der Reichenspeise, dem Kaviar, her. Die von Totibadze gemalten Lebensmittel sind nicht nur ästhetische Objekte, sondern zugleich auch Lebensweltsymbole, so wie dies auch schon am Ende des 16. Jahrhunderts der Fall war, als sich das Genre des Stilllebens in Europa ausgebildet hatte.
In den meisten Stillleben von Totibadze gibt es eine Grundkonstellation: Man sieht ein paar Gegenstände auf einer länglichen Tafel aufgereiht, und diese Tafel ist von einem Tischtuch bedeckt, dessen Ornamente sofort ins Auge fallen. Nicht selten hat man den Eindruck, dass nicht die gemalten Dinge im Vordergrund stehen, sondern das Ornament der Tischdecke, die wie zum Beispiel in Geburtstagfast den gesamten Bildraum ausfüllt. Es gibt wohl kaum ein Stilelement in der Malerei, das so stark auf einen spezifischen kulturellen Kontext verweist, wie das Ornament, das seine besondere Charakteristik oft über Jahrhunderte hinweg ausgebildet und verfeinert hat. Ornamente sind sedimentierte Kulturgeschichte und werden zu einer Art Geheimschrift, die sich nur von Traditionsverwurzelten unmittelbar dechiffrieren lässt.
Stillleben, die sowohl über die konkreten Gegenstände als auch über ihre ornamentalen Flächen derart auf kulturspezifisches Vorwissen angewiesen sind, bleiben für das internationale Kunstpublikum stumm – wenn es dazu nicht noch eine besondere Story zu erzählen gibt. Der Schlüssel zu dieser Geschichte sind in Totibadzes Stillleben nicht die arrangierten Gegenstände, sondern das Tischdeckenornament.
Das Russisch arabische Stillleben gibt hier einen Hinweis: Die Insignien der russischen Lebensform werden mit einem fremdländischen Ornament kombiniert. Folgt man dieser Spur, findet man in anderen Bildern Ornamente, die aus allen möglichen Weltregionen stammen. Im Frühstück des Samurais werden japanische Zeichen verwendet, in der Neujahrsbestellung findet sich ein Ornament, das Totibadze einem chinesischen Stil nachempfunden hat, Milch lehnt sich an europäische florale Muster an, und bei dem Tischtuch mit Hähnen handelt es sich um ein frei erfundenes Ornament, das aber an eine russisch-bäuerliche Lebenswelt erinnert.
Erstaunlich ist, dass Totibadze bewusst darauf verzichtet, diese Ornamente von einer Vorlage zu kopieren. In der Regel malt er sie aus dem Gedächtnis, auch wenn er sich ein konkretes Muster wie ein persisches oder antikes Ornament vorstellt. Offensichtlich kommt es ihm bei diesen Formkombinationen, in denen sich jeweils eine ganz bestimmte Kultur mit ihrer Geschichte und Tradition manifestiert, überhaupt nicht auf eine authentische und originalgetreue Wiedergabe an. Welche Funktion erfüllen aber dann die Tischdeckenornamente in den Bildern? Sicherlich erhöhen sie ganz allgemein die ästhetische Attraktivität der Bilder. Die frühesten künstlerischen Zeugnisse des Menschen sind einfache Ornamente, weil sich in ihnen Schönheit als Eigenwert der Wahrnehmung – das heißt die ästhetische Erfahrung von Ordnung und Kontrast, die aus der Wiederholung und der Variation von ähnlichen Formelementen entsteht – in Reinform zeigt.2 Insofern ist es auch das Ornament, das in allen Kulturen gleichermaßen vorkommt und, von lokalen und geschichtlichen Besonderheiten geprägt, dort sowohl in der Kunst als auch in der Gebrauchsästhetik eine je besondere Ausprägung gewonnen hat. Wenn Totibadze sich diese kulturspezifischen Ornamente nicht exakt, sondern vage und phantasievoll anverwandelt, dann ist dies unmittelbar Ausdruck einer sich verändernden Wirklichkeitserfahrung.
Was man heute als Ornament wahrnimmt, löst sich in den digitalen Bilderwelten aus regionalen und geschichtlichen Kontexten heraus und verschmilzt in der virtuellen Erfahrung zu einer Art von universellem Design, das man nur noch plakativ als chinesisch, arabisch oder antik identifizieren kann. Den Ornamenten kommen in Totibadzes Stillleben die Geschichten abhanden, von denen sie einst geprägt wurden. Dafür reflektieren sie nun einen Epochenwandel, der sich heute, unter dem Druck von Globalisierung und Digitalisierung, in den nationalen Kulturen vollzieht. Die kulturellen Ornamente werden auf Millionen von Bildschirmen aus ihren Entstehungskontexten herauskopiert und gemorpht, bis sie in der globalen Bildkommunikation so ahistorisch wie Naturornamente werden – aus denen sie vor Ewigkeiten einmal abstrahiert worden sind.
Insofern passt in Totibadzes Werke auch ein Bild wie Wein im Schlaf , in dem die Trauben wie ein großes Naturornament auf dem Tisch drapiert sind. Wenn man diesen Prozess der semantischen Neutralisierung von Formensprachen im Allgemeinen und Ornamenten im Besonderen zu Ende denkt, kommt man an einen Punkt, wo die Grenze zwischen konkreter und abstrakter Form fließend wird, wie etwa auf der Tischdecke von Fünf Brote und zwei Fische. Hier scheint das Tischdeckenmuster in die rudimentären Ornamente der modernen Kunst zu dissoziieren, wie sie in Jackson Pollocks Bildern spontan entstehen.
In Totibadzes Stillleben wird das Ornament zum Konzept, was man eher mit Avantgarde- Kunst als mit einem realistischen Malstil assoziieren würde. Vermutlich war diese Art von konzeptueller Malerei nicht intendiert und hat sich erst über Jahre hinweg und durch eine Mimesis des Künstlers an seine eigene Erfahrungswelt konkretisiert. Der Vorzug eines solchen impliziten Konzeptualismus ist, dass er sich aus dem Handwerk der Malerei heraus entwickeln kann und nicht jener anästhetischen Agenda folgt, von der die historische Konzeptkunst motiviert und getrieben war. Es kann also durchaus konzeptuelle Malerei geben, in welcher die Bilder zugleich auch als Gemälde wirken können. Entscheidend ist aber: Das Konzept schirmt diese Stillleben von der Folklore ab.
Der große Antagonismus, der das 20. Jahrhundert geprägt hat, war der Antagonismus zwischen zwei konkurrierenden Gesellschaftssystemen. In Milch erinnert das sowjetische Design einer Milchverpackung, das die Zeitenwende überlebt hat, noch entfernt an diesen Konflikt, wobei jenes Getreideornament nun in eine Reihe mit anderen floralen Vasenornamenten gestellt wird und – wenn man dieser Assoziation einmal folgt – symbolisch annulliert ist. Der Konflikt, der aller Voraussicht nach das 21. Jahrhundert prägen wird, entwickelt sich heute aus der Spannung zwischen nationalen Kulturen und einer sich globalisierenden Welt. Diese Konfliktzone kommt bei Totibadze – sinnbildlich gesprochen – auf den Tisch. Die Flasche Wodka, die Büchse mit der gezuckerten Milch, die Dose Kaviar und die Piroggen liegen im Nirgendwo eines ortlos gewordenen Ornaments.
Harry Lehmann